GETÚLIO  VARGAS

(19.04.1882 - 24.08.1954)

[Getúlio Vargas]

Tabellarischer Lebenslauf
zusammengestellt von
Nikolas Dikigoros

18821
19. April: Getúlio Dornelles Vargas wird als Sohn des Viehzüchters und Lokalpolitikers Manuel do Nascimento Vargas und seiner Ehefrau Cândida Dornelles Vargas in São Borja, einer Kleinstadt im Kaiserreich Brasilien (an der Grenze zwischen der südlichsten Provinz Rio Grande do Sul und Argentinien) geboren.


1889
Kaiser Pedro II wird gestürzt und geht ins Exil.2

1891
Brasilien wird eine föderative Republik mit den vormaligen Provinzen als nunmehr weitgehend autonomen Bundesstaaten.

1893-95
Der Versuch, Rio Grande do Sul - ähnlich wie den Nachbarstaat Uruguay - unabhängig zu machen ("Föderalistische Revolution"), wird von der Zentralmacht militärisch nieder geschlagen.

1898-1904
Vargas durchläuft die Kadetten-Ausbildung in São Paulo, Rio Pardo und Porto Alegre, entscheidet sich jedoch dann gegen eine Laufbahn als Berufsoffizier.

1904-07
Vargas studiert Rechtswissenschaften in Porto Alegre; danach wird er Advokat.

1909
Vargas wird in den Landtag von Rio Grande do Sul gewählt.


1911
Vargas heiratet Darcy Lima Sarmanho, die Tochter des schärfsten politischen Gegners seines Vaters.
(Aus der Ehe - die als geglückte Widerlegung des Dramas Romeo und Julia gefeiert wird - gehen fünf Kinder hervor.)

1914-18
Erster Weltkrieg. Brasilien gehört zu den Kriegsgewinnlern, da es die Entente-Mächte mit Nahrungsmitteln beliefert.

1922
Juli 1922: Junge Subalternoffiziere ("Tenentes [Leutnants]") proben in Rio de Janeiro den Aufstand.
September: Brasilien feiert den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Portugal mit einer inoffiziellen Weltausstellung.

1924
Auch in São Paulo kommt es zu einem Aufstand der "Tenentes".

1925
Der "Tenentismo" greift auf Rio Grande do Sul über.

1926
Vargas geht nach Rio de Janeiro und wird Gesundheits-, Wirtschafts- und Finanzminister der Bundesregierung unter dem neuen Präsidenten Washington Louis Pereira.
Durch die Einführung von Mindestlöhnen, Höchstarbeitszeiten und bezahltem Urlaub macht er sich bei der Arbeiterschaft beliebt.
Der Journalist Plinio Salgado veröffentlicht "Der Fremde". Darin fordert er eine Abkehr vom Kapitalismus, der von Ausländern, insbesondere Juden, beherrscht sei, und die Errichtung eines korporativen Ständestaats nach italienischem Vorbild mit den drei Säulen Gott, Vaterland und Familie. Das Buch findet reißenden Absatz; die Anhänger Salgados gründen eine politische Bewegung, die sich "Integralistas" nennt, aber allgemein - nach ihren Uniformen - nur "Grünhemden" genannt wird.


Sie propagieren die Vermischung von Weißen und Indios (insbesondere Tupi); unter dem Schlagwort der "Brasilidade" stilisieren sie den "Caboclo"-Mestizen zum Ideal des "neuen brasilianischen Menschen" hoch; dagegen betrachten sie Neger als minderwertig.

1927
Die "Tenentes" ziehen sich nach Bolivien zurück und setzen ihre Anschläge von dort fort. (Ihr Führer Carlos Prestes flieht zunächst nach Uruguay, dann in Stalins Sowjet-Union.)

1928
Vargas wird Gouverneur von Rio Grande do Sul.

1929
24. Oktober: Mit dem "Schwarzen Freitag" an der New Yorker Börse beginnt die Weltwirtschaftskrise, die Brasilien besonders hart trifft, da es fast völlig vom Export des Luxus-Artikels Kaffee abhängt3, dessen Preis binnen drei Monaten auf 10% fällt.
Durch seinen rechtzeitigen Weggang aus Rio ist Vargas etwaigen Vorwürfen ob seiner Wirtschaftspolitik entgangen.

1930
Vargas gründet die "Aliança Liberal" und stellt sich zum Präsidentschafts-Wahlkampf.
März: Vargas verliert die Wahl knapp gegen den von Washington Louis unterstützten Kandidaten der "Paulistas", Júlio Prestes.
Oktober: Das Militär - das die Wahlstimmenauszählung als gefälscht ansieht - putscht.
November: Vargas wird von den Militärs zum neuen Präsidenten ausgerufen.


1930-32
Vargas festigt seine Macht durch Erhöhung der Militärausgaben, vor allem Besoldungsanhebungen für die Angehörigen der Streitkräfte. Die Wirtschaftskrise versucht er - wie andere Staaten auch - durch protektionistische Maßnahmen zu bekämpfen, die auf Autarkie abzielen: Importbeschränkungen, Zollerhöhungen, Devisenkontrollen, Einstellung der Auslandsschulden-Bezahlung, Verstaatlichung von Banken, Bergbau- und Energie-Unternehmen sowie Aufbau einer eigenen Schwer-Industrie. Als besonders verhängnisvoll erweist sich die Zerschlagung der Privatschulen durch das Verbot anderer Unterrichtssprachen als des Portugiesischen - was vor allem die deutsche und die italienische Minderheit trifft - zwecks Gleichschaltung des Bildungswesens sowie die Einschränkung der Immigration aus Europa, die langfristig dazu führt, daß die Weißen in Brasilien zur verschwindenden Minderheit werden.4

1932
Juli: Die Bundesstaaten São Paulo, Minas Gerais und Rio Grande do Sul erklären ihre Unabhängigkeit. Vargas läßt sie binnen drei Monaten mit Waffengewalt nieder kämpfen - die größte Tragödie der brasilianischen Geschichte im 20. Jahrhundert (abgesehen, wie einige Brasilianer meinen, vom Nicht-Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1950 :-).


1933
Die "Integralistas" unternehmen einen friedlichen "Marsch auf São Paulo". Sie unterstützen Vargas im Wahlkampf.
Vargas - der im Vorjahr das Frauenwahlrecht eingeführt hat - wird mit großer Mehrheit (besonders der weiblichen Wählerinnen) zum Präsidenten gewählt.
Angesichts der fortdauernden Weltwirtschaftskrise löst Vargas Brasilien zunehmend aus dem Handel mit den Gold-, Dollar- und Pfund-Blöcken; statt dessen intensiviert er den bilateralen Warenaustausch mit dem Deutschen Reich, das bis 1938 zum wichtigsten Außenhandelspartner Brasiliens aufsteigt - was vor allem die USA trifft.

1934
Juli: Vargas läßt das Parlament eine neue Verfassung verabschieden, die sich weitgehend an der portugiesischen Verfassung Salazars von 1933 orientiert.

1935
19. April: "Führers Geburtstag" wird zum Staatsfeiertag. (Die Volksdeutschen feiern einen Tag später nach :-) Vargas baut einen zunehmend an Peinlichkeit grenzenden Personenkult ("Getulismo") um sich auf.


Dezember: Carlos Prestes kehrt aus der UdSSR zurück und versucht, mit Hilfe der Kommunistischen Partei (ANL) eine Revolution anzuzetteln, die Vargas nieder schlagen läßt. (Er läßt allerdings Prestes nicht hinrichten, sondern nur zu einer Gefängnisstrafe verurteilen.)

1937
Oktober: Angesichts neuer kommunistischer Umsturzpläne verhängt Vargas das Kriegsrecht.
10. November: Vargas setzt die Verfassung außer Kraft, löst das Parlament auf und verbietet die Parteien. Bei einer öffentlichen Bücher-Flaggen-Verbrennung in Rio de Janeiro werden die Bundesstaaten auch symbolisch zerstört. (In der Praxis werden sie wieder in den Status von Provinzen zurück versetzt, die von - durch den Präsidenten eingesetzten - Reichsstatthaltern Interventores regiert werden.)
Diese Regierungsform bezeichnet Vargas - wiederum nach dem Vorbild von Salazars Portugal5 - als "Estado nôvo".
Zur staatlichen Kontrolle der Medien (Rundfunk, Presse- und Buchverlage, Kino, Theater, Kunst) werden "nationale" Institute gegründet.

1938
Vargas veröffentlicht "A nova política do Brasil [Die neue Politik Brasiliens]".

1939
März: Um die Handelsbeziehungen zwischen Brasilien und Deutschland "aufzubrechen", gewährt US-Präsident Roosevelt Vargas Anleihen und Kredite im Gesamtumfang von 120 Mio US-$ (nach heutigem Geld ca. 4,8 Mrd. US-$) - von denen freilich 20 Millionen zur Bezahlung von Außenhandelsschulden und 50 Millionen zum Kauf von Waffen u.a. Industrie-Produkten in den USA verwendet werden müssen.
September: Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bleibt Brasilien zunächst neutral; Vargas steht jedoch wirtschaftlich von Anfang an auf Seiten der Alliierten, durch deren Belieferung mit kriegswichtigen Rohstoffen (u.a. Bauxit, Berill, Nickel, Mangan und Titan) Brasilien bis 1945 einen Außenhandelsüberschuß von 800 Mio US-$ erzielt.


1940-43
Vargas, der - wie andere Diktatoren auch - ein Freund monumentaler Bauwerke ist, läßt den Architekten Oscar Niemeyer ein pompöses neues Bildungs- und Gesundheits-Ministerium in Rio de Janeiro errichten.


Unterdessen kommt es durch verstärkte Landflucht zur Bildung von Elendsvierteln ("Favelas"), vor allem in den Millionenstädten Rio und São Paulo.


1942
Januar: Nach einer von den USA initiierten Außenminister-Konferenz in Rio de Janeiro brechen die amerikanischen Staaten (mit Ausnahme von Argentinien und Chile) die diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten ab.
Vargas verbietet außerdem deutsche Turn-, Gesangs- und sonstige Vereine; Deutsch darf in der Öffentlichkeit nicht mehr gesprochen und auch als Fremdsprache nicht mehr gelehrt werden. Durch öffentliche Lautsprecher wird die Bevölkerung täglich mit übler anti-deutscher und anti-italienischer Hetzpropaganda berieselt; deutschstämmige Brasilianer werden verfolgt.
Februar: Der in Petrópolis lebende deutsch-ostmärkisch-österreichisch-jüdische Schriftsteller Stefan Zweig - der kein Wort Portugiesisch spricht - begeht angesichts dessen aus Verzweiflung Selbstmord. Vargas spendiert ihm ein Staatsbegräbnis.
Februar: Roosevelt kommt zum Staatsbesuch nach Natal und drängt Vargas zum Kriegseintritt gegen Deutschland. Er stellt ihm dafür weitere umfangreiche Finanzhilfen in Aussicht.


August: Brasilien erklärt Deutschland und Italien den Krieg - als erstes Land Südamerikas. Es erhält dafür von Roosevelt ein Stahlwerk und Kriegsgerät im Nominalwert von 1 Mrd. US-$. (Tatsächlich handelt es sich überwiegend um veraltetes Material, das jedoch für einen etwaigen Krieg gegen Brasiliens Nachbarländer - vor allem Argentinien - ausreicht.)
1. November: Vargas führt eine Währungsreform durch. Fortan ziert sein Konterfei die Geldstücke zu 50 Centavos.


1944
Gegen den Widerstand des Militärs stellt Vargas den Alliierten brasilianische Truppen (ca. 25.000 Mann) zur Verfügung; sie beteiligen sich an der EroberungBefreiung Italiens und zeichnen sich dabei vor allem durch zahlreiche Greueltaten an der Zivilbevölkerung aus. Die Gefallenen bekommen ein schönes Denkmal - wiederum von Niemeyer - in Rio.


1945
März: Vargas schreibt Wahlen für Dezember aus. Er gründet zwei neue Parteien - PSD ("Sozialdemokraten") und PTB ("Arbeiterpartei") -, amnestiert Prestes u.a. ehemalige Tenentes - die ihn fortan politisch unterstützen sollen - und läßt auch wieder eine kommunistische Partei ("PCB") zu.
Mai: Angesichts der rassischenethnischen Entwicklung Brasiliens versucht Vargas, die Einwanderungspolitik wieder zu ändern, d.h. bevorzugt "arische" Immigranten ins Land zu locken, unter gleichzeitiger Abschottung gegen andere Immigranten, einschließlich europäische Juden. Erstes mißlingt ihm gründlich, da sich viele potentielle Einwanderer noch an seine deutschfeindliche Politik der letzten Jahre erinnern und deshalb lieber in die Nachbarländer gehen; letzteres trägt ihm die Feindschaft der USA ein.
Oktober: Unter dem Druck des Militärs tritt Vargas als Präsident zurück und verzichtet auf eine Kandidatur bei den anstehenden Wahlen.
Dezember: Vargas' Freund, Kriegsminister a.D. Dutra, wird zum Präsidenten gewählt; er verhindert, daß Vargas wegen irgendwelcher Handlungen während seiner Amtszeit belangt werden kann.

1946
Vargas wird Senator für die Bundesländer Rio Grande do Sul und São Paulo (bis 1949).

1950
Juni/Juli: Brasilien richtet die 4. Fußball-Weltmeisterschaft aus, deren Gewinn als "nationales Anliegen" betrachtet wird.


Im entscheidenden Spiel der Endrunde unterliegt die "Selecção" jedoch einer für Uruguay antretenden italienischen Auswahl.6 Die Niederlage führt im ganzen Land zu schweren Unruhen, [Selbst-]Mord und Totschlag. Zugleich öffnet sie Vargas den Weg zu einem Comeback, da "Volkes Stimme" der Regierung die Schuld für das "Versagen" der Fußballer gibt.
Oktober: Vargas wird als Kandidat der PTB erneut zum Präsidenten gewählt.

1951
Januar: Nach seinem Amtsantritt läßt Vargas sich auch auf den Geldscheinen zu 10 Cruzeiros abbilden.


Die zunehmende Inflation sowie die chronisch negative Außenhandelsbilanz kann er damit freilich nicht wirksam bekämpfen. Eine von Vargas verfügte pauschale Lohnerhöhung um 100% heizt die Preisspirale nur noch mehr an.

1953
Januar: Eisenhower wird neuer US-Präsident. Verärgert über Vargas' Weigerung, Truppen für den Korea-Krieg zur Verfügung zu stellen - obwohl Brasilien noch immer die größten und Dank US-Lieferungen am besten ausgerüsteten Streitkräfte Lateinamerikas unterhält - stellt er die Finanz- und Wirtschaftshilfen weitgehend ein. An der New Yorker Rohstoffbörse wird brasilianischer Kaffee boykottiert, nachdem Vargas versucht hat, ihn durch staatliche Preisfestsetzungen erheblich zu verteuern. Vargas beginnt, sich nach anderen Handelspartnern umzuschauen.
Mai: Vargas reist zum Staatsempfang in die BRD. Dort wird ihm die - eigens für ihn eingeführte - "Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" verliehen. (Viel mehr ist dort einstweilen noch nicht zu holen.)


1954
Juli: Der Oppositions-Politiker Carlos Lacerda deckt auf, daß Vargas die einzige ihm noch wohl gesonnene jüdischebrasilianische Zeitung Última Hora [Letzte Stunde] - bzw. ihren Herausgeber Samuel Wainer - mit Geldern geschmiert hat, die er bei der brasilianischen Staatsbank "abgezweigt" hat, und erreicht die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungs-Ausschusses.
4. August: Zwei Angehörige der "Schwarzen Garde" - Vargas' persönlicher Leibwache - verüben ein Attentat auf Lacerda, verletzen ihn und töten seinen Begleiter, einen Major der brasilianischen Luftwaffe. Vargas bekennt sich mehr oder weniger offen dazu, das Attentat in Auftrag gegeben zu haben - wohl in der Annahme, damit seine politischen Gegner hinreichend eingeschüchtert zu haben.7
23. August: Das Kabinett fordert Vargas zum Rücktritt auf.
24. August: Vargas begeht Selbstmord.
Sein politischer Erbe, der ebenfalls aus São Borja stammende João Goulart, inszeniert eine medienwirksame Verlesung seines - angeblichen8 - Testaments, die an Shakespeares Julius Caesar erinnert.

* * * * *

1970
Nach einer neuerlichen Währungsreform werden die Geldstücke mit Vargas' Gesicht aus dem Verkehr gezogen.9

1974-2006
Vargas' Leben wird wiederholt verfilmt; vor allem die Darstellung durch den Schauspieler Carlos Ferreira in mehreren Fernsehserien macht ihn wieder populär.

2004
24. August: Zu Vargas' 50. Todestag werden seine Überreste ausgegraben und mit allem Pomp in ein kostspieliges Monument in seiner Geburtsstadt São Borja überführt.


2007
April: Das Boulevardblatt Folha de São Paulo veranstaltet - nach einschlägigen Vorbildern in anderen Ländern - eine Wahl zum "größten Brasilianer aller Zeiten". Die Mehrheit der Leser entscheidet sich für "Getúlio".


1Vargas selber behauptete, 1883 geboren zu sein. Es gilt jedoch heute als erwiesen, daß er die diesbezüglichen Dokumente fäschte.

2Es wird oft behauptet, der Kaiser sei gestürzt worden, weil er 1888 mit der Abschaffung der Sklaverei die einflußreichen Plantagenbarone verärgert habe. Doch das ist eine Legende. Der Import schwarzer Sklaven aus Afrika war bereits 1850 verboten und durch die Immigration von in Europa (vor allem in deutschen und italienischen Staaten) angeworbenen Bauern-Knechten und -mägden ersetzt worden, die tüchtiger - und noch billiger - waren. (Selbst wenn sie "freie" Pächter waren, ging es den Immigranten oft nicht besser als Sklaven: Sie mußten 50% ihrer Ernte abliefern und außerdem die - vorgestreckten und hoch verzinsten - Kosten für Passage, Werkzeug und Saatgut abzahlen. Wenn Immigranten "eigenes" Land bekamen, dann lag dieses durchweg im Urwald, den sie erst einmal roden und "indiofrei" machen mußten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren so erbärmlich, daß Preußen 1859 die Auswanderung nach Brasilien verbot.) Ab 1871 wurden alle Kinder brasilianischer Sklaven frei geboren. Die "abolição" von 1888 betraf nur noch ca. 500.000 meist ältere Schwarze, die entweder sofort entlassen oder aber von ihren bisherigen Herren noch ein paar Jahre als "freie" Arbeiter weiter beschäftigt wurden; in beiden Fällen verloren sie ihre sklavischensozialen Versorgungs-Ansprüche bei alters- oder sonstwie bedingter Arbeitsunfähgkeit; ihre materielle Lage verschlechterte sich also durch die "Befreiung", ähnlich wie die der "befreiten" Sklaven in den USA und die der "befreiten" Bauern im Rußland. Ohnehin hatte der besonders sklavenintensive Anbau von Baumwolle und Zuckerrohr damals bereits stark an Bedeutung verloren, und für die immer wichtiger werdenden Kaffee-Plantagen setzte man lieber Weiße ein. (Es stand denn auch nach Abschaffung der Monarchie nie ernsthaft zur Debatte, die Sklaverei etwa wieder einzuführen.) Der wahre Grund für den Sturz des Kaisers war, daß die mächtige Elite der einzelnen Regionen die Zentralgewalt abschütteln wollte, was ihr mit der Errichtung einer föderativen Republik auch weitgehend gelang. (Die Bundesstaaten hatten eigene Steuerhoheit und sogar eigene Streitkräfte.) Durch stillschweigende Übereinkunft wechselten sich die "Gouverneure" der beiden wichtigsten Bundesstaaten, São Paulo und Minas Gerais, im Amt des (Bundes-)Präsidenten ab.

3Der Kurs des Real war seit der Konvention von Taubaté vom Februar 1906 ganz offiziell an den Kaffeepreis auf dem Weltmarkt gekoppelt: 1 Zentner Kaffee = 32 Milréis [32.000 Réis]. (Ausgeprägt wurden Milréis bis 1913 à 9 gr Silber [die Gewichtsangabe auf den Münzen ist irreführend, da es sich nur um 900er Silber handelte] und bis 1922 à 0,8 gr Gold. Zum Vergleich: Die deutsche Mark wurde bis 1918 à 5 gr Silber und 0,35 gr Gold ausgeprägt.) Da es in den 1920er und 1930er Jahren noch fast überall sauberes Trinkwasser gab, das man unabgekocht trinken konnte und dessen Geschmack auch nicht "übertüncht" zu werden brauchte, konnte man auf den teuren Kaffee als erstes verzichten. [Auf den vor allem zur Autoreifen-Herstellung unverzichtbaren Kautschuk hatte Brasilien kein Monopol mehr. Nachdem es Henry Wickham 1876 gelungen war, Samen des Gummibaums aus Brasilien heraus zu schmuggeln, begannen die Briten in ihren Kolonien - vor allem in Malaya - eigene Plantagen anzulegen. Trotz erhöhten Bedarfs im Ersten Weltkrieg war Brasiliens Kautschuk-Produktion bereits bis 1918 um 75% gesunken.] Obwohl Brasilien große Mengen der Kaffee-Ernte vernichtete, um die Ware zu verknappen - angeblich wurden bis 1944 rund 78 Millionen Tonnen verbrannt - blieb der Weltmarkt-Preis niedrig. (Er stieg zwar bis 1932 wieder auf ca. 40%, allerdings nur gerechnet in Pound Sterling, das bis dahin um 50% abgewertet worden war.) Er ist nie wieder auf das Niveau vor 1929 gestiegen.

4Ausnahmen werden nur ab 1934 für einzelne Wissenschaftler gemacht, um die neu gegründeten Universitäten in São Paulo (1934) und Rio de Janeiro (1935) mit Lehrpersonal auszustatten, wovon vor allem in Deutschland vorzeitig in den Ruhestand versetzte Juden profitieren. 1941 - kurz bevor der "Holocaust" anläuft - wird dieses Anwerbeprogramm jedoch beendet; gleichzeitig beginnt Vargas, zahlreiche jüdische Prostituierte und Zuhälter - das horizontale Gewerbe Brasiliens befindet sich traditionell (seit 1867) fest in den Händen der "Zwi Migdal" - des Landes zu verweisen. 1938 wird auch die Einwanderung aus Asien - die man 30 Jahre zuvor zwecks Gewinnung billiger Kulis in großem Maßstab eingeführt hatte - praktisch verboten, was sich vor allem gegen Japan richtet.

5Über Vargas' sonstige politische Vorbilder ist viel spekuliert worden. Die Liste der Kandidaten reicht von Mussolini und Dollfuß (mit denen er zumindest die Körpergröße gemeinsam hatte :-) über Hitler, Pilsudski und Atatürk bis zu Stalin und Roosevelt. Tatsächlich stützte sich keiner der Vorgenannten in einer derartigen Einseitigkeit auf die Streitkräfte. Vargas' "Estado nôvo" war das klassische Beispiel einer südamerikanischen Militär-Diktatur - was freilich noch nichts über deren Qualität sagt.

6Die besten Fußballspieler Argentiniens und Uruguays waren traditionell italienischer Abstimmung und gingen regelmäßig als Profis nach Italien; wer für dessen Nationalelf in Frage kam, ließ sich dort einbürgern; wer dazu keine Chance sah - es gab damals noch keine Auswechslungen, also nur sehr begrenzte Kader - spielte weiter für sein Geburtsland. Kurz vor der WM war die komplette italienische Nationalmannschaft bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen; aber für neue Einbürgerungen war es zu spät; so spielten die "zweitbesten" Italiener nun für Uruguay. In manchen Sportgeschichten ist zu lesen, daß Vargas persönlich im Streit zwischen Argentinien und Brasilien um die Austragung der WM Juan Perón "von Präsident zu Präsident" zum Verzicht überredet habe. Dies ist unzutreffend, denn darüber wurde schon 1947 entschieden, und da war Vargas nicht Präsident. Die Unruhen nach der Niederlage hatten selbst im krisengeschüttelten Südamerika keinen Präzedenzfall; entgegen anders lautenden Behauptungen hatten sie ihren Hauptgrund nicht im allmählichen wirtschaftlichen Niedergang Brasiliens unter Dutra, sondern im Nichtgewinn der WM. Die "Verlierer" wurden auf Lebenszeit aus der Nationalmannschaft - die nie wieder in den althergebrachten Trikots spielen durfte - verbannt und gesellschaftlich geächtet. Torhüter Barbosa - dem vorgeworfen wurde, beim entscheidenden 1:2 "geschlafen" zu haben - soll kurz vor seinem Tode gesagt haben: "Die Höchststrafe für Mord in unserem Lande sind 30 Jahre; aber ich bin für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe, 50 Jahre lang bestraft worden."

7In dem anschließenden Strafprozeß nimmt Gregório Fortunato, der Chef der "Schwarzen Garde", die Anstiftung zum Mord auf sich und wird dafür 1956 zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt; er wird jedoch von Vargas' Nach-nachfolger João Goulart begnadigt (mit der hanebüchenden Begründung, Lacerda habe seinen Begleiter selber erschossen und sei selbst gar nicht verletzt worden) und später von Unbekannten ermordet.

8Es handelte sich um ein - ziemlich unausgegorenes - Textfragment in englischer Sprache.

9Seit der Währungsreform vom März 1986 werden auf brasilianischen Geldstücken aus Gründen der politischen Korrektheit nur noch Köpfe von Negern oder Mulatten abgebildet. (Ähnliches geschieht später auch in den Vereiniggerten Staaten von Amerika.)

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