SŪN YAT-SEN

(1866 - 1925)

[Sun Yat-sen]
[Signatur]

Tabellarischer Lebenslauf
zusammengestellt von
Nikolas Dikigoros

1866
12. November: Sūn Yat-sen* wird als 5. von 6 Kindern des Landarbeiters Sūn Da-cheng in Cuiheng (bei Kanton) geboren.**
China - das seit Mitte des 17. Jahrhunderts von der Mandschu-Dynastie der Ch'ing beherrscht wird - befindet sich wirtschaftlich und politisch auf dem absteigenden Ast. Der christliche Taiping-Aufstand im Süden (1851-1864) und der muslimische Nien-Aufstand im Norden (1853-1868) schwächen die Zentralgewalt nachhaltig. Zu Sūns Lebzeiten verliert China große Teile seiner bis zum 18. Jahrhundert zusammen gerafften Kolonien, tributpflichtigen Vasallenstaaten und "Einflußsfären" an fremde Großmächte: Tibet, Nepal und Barmā [Myanmar] an Großbritannien, Yünnan und Indochina an Frankreich, Ost-Turkestan [Sinkiang] und die Mongolei an Rußland, Korea und Formosa [Taiwan] an Japan. Anders als zuvor die japanische Regierung will die chinesische nicht wahr haben, daß man zunächst von den "ausländischen Teufeln" lernen muß, bevor man sie mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen kann.

[Karte: Chinas Machtbereich 1795] [Karte: Chinas Verluste bis 1911]

1879
Juni: Sūn folgt seinesm älteren Bruder nach Hawaii, wo er die Iolani-Schule besucht, Englisch lernt und sich innerlich dem Christentum annähert.
Sie haben Glück, daß Hawaii noch nicht den USA gehört - wo der "Chinese Exclusion Act" von 1882 de facto die Einwanderung von Chinesen unmöglich macht.


(Erst 1884 gewährt der letzte Häuptling der U.S. Navy das Recht, in Pearl Harbor einen Flottenstützpunkt einzurichten - der Anfang vom Ende der Unabhängigkeit.)


1883
März-Juli: Sūn besucht das Oahu College.
Juli: Sūn kehrt nach Cuiheng zurück, wo seine neumodischen Ideen gar nicht ankommen; nachdem er einen konfuzianischen Tempel geschändet hat, wird er aus der Dorfgemeinschaft verstoßen.
Er geht ins britische Hong Kong.

1883-86
Sūn besucht in Hong Kong erst die Diozösan-, dann die staatliche Zentralsschule.

1884
Mai: Sūn läßt sich taufen.

1886
Sūn heiratet Lu Mu-zhen (1867-1952). Aus der Ehe gehen ein Sohn und zwei Töchter hervor.


1886-92
Sūn studiert am College für Medizin in Hong Kong und legt sein Examen als Arzt ab, praktiziert aber nicht als solcher.
Er wird auch nicht promoviert; daher ist die bisweilen anzutreffende Betitelung als "Dr. Sūn Yat-sen" falsch. Woher das Geld für sein Studium kam, ist nicht ganz klar (angeblich von seinem Bruder). Klar ist aber, daß es damals unter den Besatzungsmächten - insbesondere Großbritannien - Bestrebungen gab, geeignete Chinesen zu "nützlichen Idioten" heran zu ziehen, die ihnen bei der "Durchdringung" Chinas helfen konnten und deren Aktivitäten sie finanzierten. Nur von diesen konnte auch das Geld kommen für Sūns fast ununterbrochene Propaganda-Reisen rund um die Welt sowie die vielen Revolutionen und Revolutiönchen gegen das Mandschu-Regime, die er und andere in den folgenden Jahren allen Fehlschlägen zum Trotz immer wieder unternahmen.

1894
Sūn gründet zusammen mit ehemaligen Kommilitonen die "Gesellschaft zur Wiedererweckung Chinas", deren Geschäftsführer er wird.

1894/95
Im Krieg gegen Japan wird China schwer geschlagen.

1895
Oktober: Sūn und seine Mitstreiter glauben, die daraus resultierende Schwächung des Regimes für einen Umsturzversuch nutzen zu können. Dieser schlägt jedoch kläglich fehl. Sūn muß China vorübergehend verlassen und geht zunächst nach Japan ins Exil. Von dort aus tourt um die englischsprachige Welt - USA, Kanada, Großbritannien -, um Geld für weitere Aufstände gegen das Mandschu-Regime zu sammeln.

1898
Im Krieg gegen Spanien erobern die USA u.a. die Filipinen, die sie annektieren, um Plänen Japans, ein gleiches zu tun, zuvor zu kommen.

1899
Sūn geht - wohl in japanischem Auftrag - auf die Filipinen und unterstützt dort den Unabhängigkeitskrieg der Einheimischen gegen die USA, der drei Jahre später mit einer vernichtenden Niederlage endet.

1900
Juni: In China beginnt - mit völlig unzureichenden Mitteln - der so genannte "Boxeraufstand" gegen alles Ausländische, der zwar viel Porzellan zerschlägt, Chinas Lage aber nicht bessert, sondern sie im Gegenteil nur verschlimmert.

[Karikatur: Der russische Bär und der britische Löwe erlegen den chinesischen Drachen]

Oktober: Erneut versuchen Sūn und seine Helfershelfer Mitstreiter, die Situation für einen Umsturz auszunutzen - diesmal mit Hilfe der chinesischen Mafia ("Triaden"). Auch dieser Versuch scheitert.

1903
Sūn reist nach Syām [Thailand], das einzige noch unabhängige Land Südostasiens, um die finanzielle Unterstützung der dortigen chinesischen Kaufleute zu gewinnen.

1904
Sūn tourt durch die USA und rührt auch dort die Propagandatrommel für einen Umsturz in China.

1905
Januar-Juni: Sūn tourt durch Europa (Großbritannien, Belgien, Frankreich, Deutschland) und versucht auch dort Unterstützung für seine Revolutionspläne zu finden.
Juli: Sūn kehrt nach Japan zurück. Dort gründet er im
August die "Tong meng hui [Schwurbrüderschaft]" zum Sturz des Mandschu-Regimes.

1906
Sūn gründet zusammen mit Auslandschinesen ähnliche Gesellschaften - als "Lesezirkel" getarnt - in den britischen Kolonien Malaya und Singapur.

1907
Dezember: Sūn und seine KomplizenMitstreiter unternehmen, diesmal von Vietnam ausgehend, erneut eine Reihe erfolgloser Umsturzversuche.

1908
Nachdem weitere von ihm angezettelte Aufstände gescheitert sind, scheint Sūns Stern zu sinken; vorübergehend schieben sich andere Möchtegern-Revolutionäre in den Vordergrund.

1910
November: Sūn geht nach Penang, wo er eine Konferenz abhält, auf der er unverhohlen um Spenden zur Finanzierung seiner Umstürzpläne in China aufruft. Zu diesem Zweck gründet er auch das Hetzblatt die Tageszeitung "Kwong wah".
Der Aufruf bringt 187.000 Straits-Dollars (in heutigem Geld ca. 37 Mio Euro) ein, ein Erfolg, der schwerlich allein durch die Großzügigkeit irgendwelcher Auslandschinesen erklärt werden kann, sondern die Unterstützung seitens fremder Staaten, vor allem Großbritanniens, vermuten läßt.


1911
April: Der "Aufstand der gelben Blumen" ist der letzte Umsturzversuch, den das Mandschu-Regime nieder schlagen kann.
Oktober: In Peking beginnt ein später als "chinesische Revolution" verherrlichter Militärputsch - ohne Beteiligung Sūns, der sich gerade in den USA aufhält und erst im
Dezember nach China zurück kehrt. Er ruft die "Republik" aus und läßt sich von einem Häuflein gerade anwesender Möchtegern-Volksvertreter zum "provisorischen Präsidenten" wählen.


1912
Sūn verbündet sich mit General Yüan Shih-kai (1859-1916), dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Nordchina. Dieser zwingt im
Februar Pu yi - später als "der letzte Kaiser von China" bezeichnet, eine sechsjährige Marionette der Hof-Eunuchen -, eine Abdankungserklärung zu unterzeichnen.
März: Sūn tritt zu Gunsten von Yüan als "provisorischer Präsident der Republik China" zurück.
August: Sūn gründet aus den Resten seiner "Schwurbrüderschaft" die "Nationale Volkspartei [Kuo min tang]", deren Vorsitzender sein Freund Song Jiao-ren wird.
Dezember: Bei Wahlen zweifelhafter Art und Güte zur "Nationalversammlung" verfehlt die NVP/KMT knapp die absolute Mehrheit.

1913
Juli: Sūn probt einmal mehr den Aufstand (heute als "2. chinesische Revolution" schön geredet verherrlicht). Seine hastig zusammengewürfelten Freiwilligenverbände sind jedoch gegen die reguläre Armee Yüans chancenlos. Die NVP/KMT wird verboten, Song getötet; Sūn geht wieder nach Japan ins Exil.

1914
August: Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
November: Japanische Truppen besetzen unter Verletzung der chinesischen Neutralität das deutsche Pachtgebiet von Kiautschou.

1915
Oktober: Sūn läßt sich von Lu Mu-zhen scheiden und heiratet die 27 Jahre jüngere Sūng Ching-ling (1893-1981) - gegen den Willen ihres Vaters, des einflußreichen amerikanisierten Bankiers "Charles Soong".


Dezember: Yüan läßt sich zum neuen Kaiser von China proklamieren. Unmittelbar darauf kommt es zu einer Flut von Aufständen und Unabhängigkeitserklärungen in verschiedenen Provinzen.***
China beginnt, in mehrere Machtbereiche zu zerfallen, deren Militärführer (auf Englisch meist "war lords [Kriegsherren]" genannt) einander mehr oder weniger erbittert bekämpfen.

1916
März: Yüan legt den Kaisertitel nieder.
April: Sūn kehrt nach China zurück, diesmal nach Schanghai.
6. Juni: Yüan stirbt in Peking.
9. Juni: Sūn verkündet die Wiederherstellung der "Republik" von 1911.

1917
August: Im Vertrauen auf Versprechungen der Entente-Mächte, Kiautschou an China zurück zu geben, erklärt China dem Deutschen Reich den Krieg.
September: Sūn läßt sich von seinem "Parlament" den dekorativen Titel "Generalissimo" verleihen. Seine Bemühungen, China zu erobern, kommen jedoch nicht so recht voran.

1919
Juni: Im Vertrag von Versailles wird Kiautschou Japan als "Völkerbundsmandat" zugesprochen.
(Die USA sind darob so empört, daß sie dem Völkerbund [Leage of Nations] demonstrativ nicht beitreten.)

[Karikatur: John Bull und Uncle Sam lassen sich von Japan ihre Beute - das fette Schwein China - mopsen]

Oktober: Sūn gründet die NVP/KMT neu.


1920
Sūn versucht vergeblich, diverse "war lords" zu überreden, sich ihm anzuschließen.

1921
April: Sūn ruft in Kanton eine Gegenregierung aus. Er läßt sich im
Mai zum "Präsidenten" und "Großmarschall" ernennen - freilich fehlen ihm noch immer brauchbare Truppen, mit denen er die restlichen 90% Chinas erobern könnte.

1922
Februar: Am Rande der Washingtoner Flottenkonferenz wird China zur neuerlichen Anerkennung der von den Westmächten seit 1899 verfolgten "Politik der offenen Tür" - die zu den wichtigsten Ursachen des "Boxer-Aufstands" zählte - gezwungen. Es verzichtet damit auf seine Souveränitätsrechte an den wichtigsten Häfen und Flüssen.
(Dieser so genannte "Neun-Mächte-Vertrag" wird - auf Druck unter Federführung der USA, die von ihm am meisten profitieren - von China, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien, Portugal, Belgien und den ach-so-neutralen Niederlanden unterzeichnet und wie zum Hohn als "Abkommen, das die Souveränität und territoriale Integrität Chinas garantiert" bezeichnet.)


1923
Januar: Von den Westmächten enttäuscht, schließt Sūn ein Bündnis mit der Sowjet-Union unter Lenin; mit der Kommunistischen Partei Chinas bildet er eine "Vereinigte Front".
Sūn entgeht nur knapp einem Attentat, bei dem ihm der in Japan ausgebildete Artillerie-Offizier Tschiang Kai-shek das Leben rettet.
(Wohl mehr wegen dieses Loyalitätsbeweises denn wegen heraus ragender militärischer Fähigkeiten macht Sūn Tschiang später zum Leiter seiner neu gegründeten Militär-Akademie und zum Oberbefehlshaber seiner mit Hilfe sowjetischer Instrukteure reorganisierten Streitkräfte.)

1924
August-Oktober: Ein Militärputsch in Kanton kann nur mühsam nieder geschlagen werden.
Sūns Popularität bleibt selbst innerhalb seines Machtbereichs bescheiden.
Er versucht dem gegen zu steuern, indem er überall herum reist und jedem, der es hören will, ohne Rücksicht auf innere Widersprüche nach dem Munde redet: In Hong Kong lobt er die britische Kolonialherrschaft; in Tientsin fordert er die Aufhebung der "ungleichen Verträge" (u.a. mit England und Japan); in Kobe unterstützt er eine "pan-asiatische Wohlstandssfäre" unter japanischer Führung.
(Für Leser[innen] Lesende, die sich über den merkwürdigen Begriff "Wohlstandssfäre" wundern sollten: Es ist nichts weiter als die Übersetzung des englischen Wortes "Commonwealth" - und genau das war auch gemeint.)


1925
Januar: Sūn reist nach Peking, um seine Leberzirrhose behandeln zu lassen - zunächst nach moderner westlicher, sodann nach traditioneller chinesischer Heilmethode. Beide bleiben erfolglos.
12. März: Sūn Yat-sen stirbt in Peking (offizielle Todesursache: Krebs). Als guter Christ wird seine Leiche einbalsamiert und die Mumie in einem buddhistischen Tempel vor den Toren Pekings eingesargt.****

[Sarg]

Er hinterläßt ein zerrissenes Land, in dem Bürgerkriege toben, aus denen am Ende die Kommunisten unter Mao Tse-tung als Sieger hervor gehen (denen sich auch seine Witwe Ching-ling anschließt).

[Machtbereiche der chinesischen War Lords 1925]

Gleichwohl wird sein Andenken nicht nur in der Volksrepublik [Rot-]China, sondern auch im national-chinesischen Taiwan hoch gehalten; er gilt in beiden Staaten als der geistige [Groß-]Vater des modernen China.*****


*Dikigoros verzichtet bewußt auf den Gebrauch unterschiedlicher Namen. In Asien war es üblich - und ist es z.T. bis heute -, seinen Namen mehrmals, je nach Lebensumständen, zu ändern, nicht nur wie im Westen bei Eheschließungen oder Adoptionen. "Sūn" ist der Name des Familienclans; den Rufnamen "Yat-sen" (auch in anderen Schreibweisen) soll er entweder während seiner Schulzeit in Hong Kong oder nach seiner Taufe angenommen haben.

**Ausweislich einer in den USA vorliegenden Geburtsurkunde wurde S. dagegen am 24.11.1870 auf Hawaii geboren. Die dortigen Behörden sind allerdings bekannt für ihre Großzügigkeit beim Ausstellen solcher Dokumente. Jüngstes Beispiel ist der Fall des in Kenya geborenen Krypto-Muslims Barack Hussein Obama, dem durch Falschbeurkundung bescheinigt wurde, auf Hawaii geboren zu sein; dies ermöglichte ihm, US-Präsident zu werden.

***Es ist sehr schwierig zu beurteilen, ob da ein Kausalzusammenhang vorlag oder lediglich eine zeitliche Koïnzidenz. Die chinesische Geschichtsschreibung, die Sūn uneingeschränkt verherrlicht, muß Yüan konsequenter Weise verteufeln (als schlechten Generalgouverneur von Korea, der dessen Abfall verschuldet habe) und lächerlich machen (als Sexprotz mit einem Dutzend Konkubinen, darunter, horribile dictu, Ausländerinnen - zumeist Koreanerinnen - und angebliche Ex-Prostituierte, von denen er an die 100 Kinder gehabt habe). Tatsächlich hatte auch Sūn, trotz seines ach-so-christlichen Glaubens, Konkubinen und von diesen Kinder - das war ganz einfach gute alte chinesische Tradition. (Allerdings wird darüber nicht gar so viel geschrieben :-) Militärisch war Yüan durchaus befähigt; seine Truppen waren für chinesische Verhältnisse recht kampfstark und zuverlässig - was man von denen Sūns nicht behaupten konnte. Yüan betrieb auch eine in Anbetracht der schwierigen Umstände halbwegs erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die von ihm 1914 eingeführte Silberwährung - der "Yüan" - überlebte ihn um Jahrzehnte, während die "Zentralbank Chinas" - auf deren Gründung 1924 Sūns Biografen so stolz sind - nichts weiter produzierte als wertloses Papiergeld. [Die Silbermünzen mit Sūns Konterfei wurden erst 1929 unter Tschiang Kai-shek eingeführt; es waren umgeprägte Stücke aus Yüans Ära.]

[Silbermünze zu 1 Yüan 1914] [Silbermünze zu 1 Yüan 1929]
(Die Umschrift ist jeweils von rechts nach links zu lesen. Beide Jahreszahlen sind - ähnlich wie früher bei der französischen Revolution von 1789 und wenig
später bei der italienischen Epoche des Fascismo - ab Beginn der Revolution von 1911 gerechnet. Links "3. Jahr" - also 1914 -, rechts "18. Jahr" - also 1929.)

****1929 wird der Sarkofarg in ein vor den Toren Nankings errichtetes Mausoleum überführt, wo er bis heute als Touristen-Attraktion dient.

*****Auch die USA widmen ihm zum 50. Jahrestag der Revolution von 1911 eine Briefmarke, nicht etwa Tschiang Kai-shek, mit dem sie offiziell - noch - verbündet sind. (Kennedy hatte sich bei den Präsidentschaftswahlen 1960 gegen Nixon durchgesetzt, der Taiwan 1972 zugunsten Rotchinas fallen lassen sollte.)

Ob dies mit der Wertschätzung seiner Person und/oder seiner politischen Ideen zu tun hat - oder doch mehr mit diplomatischem Kalkül - mag dahin stehen. Dikigoros muß gestehen, daß er sich nicht in Sūns Gedankenwelt hinein versetzen kann. Insbesondere entgeht ihm mangels ausreichender chinesischer Sprachkenntnisse der angebliche "tiefere Sinn" seiner "politischen Filosofie", die sich in den Wörtern "Min zu", "Min quan" und "Min sheng" ausdrücken soll. [Sie werden im Westen meist als "Drei Volksprinzipien" bezeichnet ("Min" bedeutet "Volk") und mit "Nationalismus", "Demokratie" und "sozialer Wohlfahrtsstaat" übersetzt; aber das greift wohl zu kurz.] Er würde das seiner eigenen Fantasielosigkeit anlasten, wenn da nicht diese doppelte Verehrung in zwei so unterschiedlichen Systemen wäre, die zeigt, daß auch viele Chinesen damit Verständnisschwierigkeiten haben - zumindest eine Seite muß sich ja irren.******
Wäre Dikigoros ketzerisch, dann würde er annehmen, daß Sūn sich zu keinem der beiden chinesischen Staaten bekannt hätte, die nach ihm entstanden, sondern vielmehr gewünscht hätte, es würde Nacht und die Preußen******* die Japaner kämen und würden dem ganzen Spuk ein Ende bereiten. Vielleicht war die auf seiner letzten Auslandsreise nach Kobe im November 1924 gehaltenen Rede, in welcher er die Errichtung einer "pan-asiatischen Wohlstandssfäre" befürwortete - s.o. -, doch ehrlich gemeint (vielleicht mit dem Hintergedanken, daß China aufgrund seiner größeren Bevölkerungszahl Japan eines Tages als deren Vormacht ablösen würde); dann hätte er die Zerstörung derselben durch die USA und ihre Alliierten womöglich als die größte Tragödie der chinesischen Geschichte angesehen.
Aber vielleicht war Sūn auch nur ein innerlich völlig zerrissener Mensch, der selber nicht genau wußte, was er wollte - außer persönlicher Macht -, wie so viele Politiker, die infolge ausländischer Erziehung zwischen den Kulturen hin und her gerissen waren.

******Sūn war in beiderlei Hinsicht kein Einzelfall. Ähnliches gilt für seine Zeitgenossen José Martí - der sowohl unter Fulgencio Batista auch unter Fidel Castro als Nationalheld Cubas diente - und José Rizal - der sowohl unter Ferdinand Marcos als auch nach dessen Sturz als Nationalheld der Pilipinen diente. Es ist halt immer leichter, jemanden zur Lichtgestalt zu machen, weil er gegen etwas ist - z.B. die böse Kolonialherrschaft - als weil er für etwas ist. Besonders dankbare Kandidaten sind Personen, deren Gedanken so verworren sind, daß völlig unklar bleibt, wofür sie eigentlich waren; man kann sie dann umso leichter für die eigene Ideologie in Anspruch nehmen.

*******Kleiner Scherz am Rande. Dikigoros hält diesen Spruch, der - so oder ähnlich - dem britischen General Wellington bei der Schlacht von Waterloo in den Mund gelegt wurde, nicht für authentisch, sondern für die Erfindung eines deutschen Drehbuchautors. Allerdings sollten die Preußen tatsächlich nach China kommen, nämlich in Person des Generalobersten a.D. Hans v. Seeckt, der 1933-35 als Militärberater von Tschiang Kai-shek fungierte.


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