Baldur v. Schirach

(1907 - 1974)

[Baldur v. Schirach - Zeichnung von Karl Bauer]
[Unterschrift]

Tabellarischer Lebenslauf
zusammengestellt von
Nikolas Dikigoros

1907
9. Mai: Baldur Benedikt v. Schirach wird als zweites von vier Kindern des Rittmeisters a.D. und Theaterdirektors Carl v. Schirach und seiner Ehefrau Emma in Berlin geboren. Sein Vater entstammt einer amerikanischen* Offiziersfamilie aus Baltimore, seine Mutter einer hugenottischen Juristenfamilie aus New York; in seinem Elternhaus wird nur Englisch gesprochen. Baldur wächst in Weimar auf.

1914-18
Erster Weltkrieg.

ab 1917
Schirach besucht ein privates Internat des Reformpädagogen Hermann Lietz.

1924
Schirach tritt einer Wehrjugendgruppe bei.

1925
29. August: Schirach tritt nach einer Begegnug mit Adolf Hitler in seinem Elternhaus der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP)" bei.

1927
Schirach beginnt ein Studium der Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte in München, das er jedoch nicht abschließt.

1928
Schirach wird als Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB) in die NSDAP-Reichsleitung berufen.


1929
Januar: Schirach gründet den "Akademischen Beobachter", eine Studentenausgabe des "Völkischen Beobachters".

1931
30. Oktober: Schirach wird - als Nachfolger des im März zurück getretenen Kurt Gruber - zum "Reichsjugendführer der NSDAP" ernannt, d.h. er leitet das "Deutsche Jungvolk" (10-13-jährige) und die "Hitler-Jugend" (14-17-jährige), die damals noch der von Ernst Röhm geleiteten SA untersteht. (18-jährige müssen die HJ verlassen und in die SA wechseln. Schirach erhält den Rang eines SA-Gruppenführers.)

1932
März: Schirach heiratet Henriette Hoffmann, die Tochter des Fotografen Heinrich Hoffmann. (Trauzeugen sind Hitler und Röhm.) Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor.


Juni: "Jungvolk" und "Hitler-Jugend" werden unter Schirachs Führung zusammen gelegt.


Juli: Schirach wird in den Reichstag gewählt.
Oktober: Schirach organisiert den "Reichsjugendtag" in Potsdam mit 70.000 Teilnehmern.

[Schirach neben Hess hinter Hitler]

1933
29. Januar: Schirach veröffentlicht das "Manifest der Jugend"; er propagiert unter dem Schlagwort "Einheit der Jugend in der Hitlerjugend" die Gleichschaltung aller in Deutschland bestehenden Jugendverbände.

[HJ-Propagandaplakat]

5. April: Schirach wird Vorsitzender des "Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände".
17. Juni: Schirach wird zum "Reichsjugendführer" ernannt.

[Schirach]

(Damit ist nun - trotz gleich gebliebener Bezeichnung - nicht mehr Führer der NSDAP-Jugend gemeint, sondern der Jugend des Deutschen Reichs. Auch die "Hitlerjugend" wird nicht in "Reichsjugend" umbenannt, obwohl eine solche de facto angestrebt wird. Bis 1936 steigt die Zahl der - freiwilligen - Mitglieder auf 6 Millionen.)

1933-1935
Schirach gibt eine Reihe von Bildbänden seines Schwiegervaters Heinrich Hoffmann heraus: "Der Triumph des Willens. Kampf und Aufstieg Adolf Hitlers und seiner Regierung", "Jugend um Hitler", "Hitler, wie ihn keiner kennt".


1934
Schirach veröffentlicht "Die Hitlerjugend. Idee und Gestalt".


1936
1. Dezember: Das Reichsjugendgesetz tritt in Kraft; es begründet eine Pflichtmitgliedschaft in der HJ für alle männlichen Deutschen vom 10. Lebensjahr an. Die Mitglieder anderer Jugendorganisationen, die noch nicht verboten worden sind oder sich "freiwillig" aufgelöst haben, werden automatisch übernommen. Zweck ist die körperliche Ertüchtigung durch Sport, Spiel und Abenteuer; seit der Wiedereinführung der Wehrpflicht tritt jedoch mehr und mehr die vormilitärische Ausbildung in den Vordergrund.

[HJ-Plakat]

Schirach wird zum Staatssekretär ernannt, die Reichsjugendbehörde wird zur Obersten Reichsbehörde aufgewertet.

1937
Schirach organisiert internationale Jugendbegegnungen mit Teilnehmern aus Afrika, Amerika, China und Japan.


Im Gegenzug reist Schirach zu Jugendbegegnungen nach Persien und in die Türkei, wo er Reza Pahläwi und Kemal Atatürk trifft.

1938
Schirach veröffentlicht "Revolution der Erziehung" und "Das Lied der Getreuen", eine Sammlung von Fahrtenliedern der österreichischen Hitler-Jugend "aus den Jahren der Verfolgung 1933-37".


1939
25. März: Einführung der Jugenddienstpflicht und der Pflichtmitgliedschaft der Jugendlichen in den einzelnen Unterorganisationen der HJ.
3. September: Nach Beginn des Polenfeldzugs erklären Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg (nicht aber der Sowjetunion, als infolge des "Hitler-Stalin-Pakts" auch die Rote Armee in Polen einrückt), der sich bald zum Zweiten Weltkrieg ausweitet.
Dezember: Schirach meldet sich freiwillig zum Militär. Nach kurzem Einsatz als Leutnant d.R. an der Westfront wird ihm das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen.

1940
Schirachs Bemühungen, die gesamte Jugenderziehung zu kontrollieren, führen zu partei-internen Streitigkeiten. Er muß das Amt des Reichsjugendführers an Arthur Axmann abgeben. Ihm bleibt nur der leere Titel eines "Beauftragen für die Inspektion der gesamten HJ".
8. August: Gegen Schirachs Wunsch, Botschafter in Washington/USA zu werden, wird er zum Reichsstatthalter der Ostmark und zum Gauleiter von Wien ernannt.


September: Schirach wird die Leitung der "Kinderlandverschickung [KLV]" übertragen. Während des Krieges werden ca. 5 Millionen Kinder und Jugendliche aus den Städten evakuiert und so vor den alliierten Terror-Bombardements gerettet.


ab 1941
Schirach schützt persönlich eine große Zahl von Juden vor der Deportation aus dem Gau Wien (was ihm später übel gedankt wird).

1942
Schirach organisiert in Wien den "Europäischen Jugendkongress". (Die Teilnehmerverzeichnisse dienen den Alliierten nach Kriegsende als Grundlage für ihre Hexenjagd nach "Nazi-Kollaborateuren".)
Schirach organisiert in Wien eine Festwoche zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreises Gerhard Hauptmann, dem er den Ehrenring der Stadt Wien verleiht.

1943
Juni: Schirach fordert von Hitler eine bessere Behandlung der Osteuropäer.
Henriette v. Schirach kritisiert gegenüber Hitler offen die Juden-Deportationen. Schirach verliert daraufhin Hitlers Wohlwollen.

1945
Bei Kriegsende taucht Schirach zunächst unter falschem Namen unter. Als er hört, daß die alliierten Besatzer die HJ zur "Verbrecherischen Organisation" erklären wollen, stellt er sich jedoch, um die "Schuld" der HJ auf sich zu nehmen, da er befürchtet, daß sonst Millionen deutsche Kinder und Jugendliche als "Kriegsverbrecher" ermordethingerichtet werden könnten. Er erreicht, daß die HJ nicht angeklagt wird.
Statt dessen wird Schirach selber vor dem interalliierten "Militär-Tribunal" in Nürnberg als "Hauptkriegsverbrecher" angeklagt.

1946
1. Oktober: Schirach wird wegen seiner formellen Beteiligung an den Judendeportationen aus dem Gau Wien zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Vom Vorwurf der paramilitärischen "Vorbereitung der Jugend auf die national-sozialistischen Eroberungskriege" wird er dagegen frei gesprochen.

1950
Henriette v. Schirach läßt sich von Baldur scheiden; dies ist der Preis der Herrlichkeit für ihre Entlassung aus dem alliierten Konzentrationslager, in dem sie - wie alle Angehörigen von "Nazi-Größen" - bis dahin zusammen mit ihren Kindern unter Ignorierung aller Regeln des Menschen- und Völkerrechts und aller Gnadengesuche in Sippenhaft gehalten wurde.

1956
Henriette v. Schirach veröffentlicht ihre Memoiren unter dem Titel "Der Preis der Herrlichkeit", die sie nicht ihrem Mann widmet, sondern dem - 1945 in den Selbstmord getriebenen - Reiseschriftsteller Colin Ross. Sie landet damit einen Bestseller, der Dank jüdischer Fürsprecher - allen voran des obersten alliierten "Geheimreporters" und Gesinnungsschnüfflers Carl Zuckmayer - trotz ungeschminkter Schilderung der alliierten Nachkriegsverbrechen in Deutschland nicht verboten wird und mehrere Neuauflagen erlebt.


Das Buch wird auch ins Englische übersetzt; der Titel - "The Price of Glory" - wird so populär, daß ihn der Militär-Historiker Alistair Horne 1962 für sein Buch über die Schlacht von Verdun plagiiertverwendet. (Die Rückübersetzung ins Deutsche erfolgt unter dem - irreführenden - Titel "Des Ruhmes Lohn" :-)

1966
30. September: Schirach wird aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis entlassen und lebt danach zurückgezogen in Südwestdeutschland.

1967
Schirach veröffentlicht seine Memoiren unter dem Titel "Ich glaubte an Hitler". Anders als die Memoiren seiner Ex-Frau werden sie zwar nicht ins Englische, dafür aber ins Französische, ins Italienische und ins Spanische übersetzt - freilich mit geringerem Verkaufserefolg.


1974
8. August: Baldur v. Schirach stirbt in Kröv an der Mosel.


2005
Richard v. Schirach, Baldurs jüngster Sohn - dem man, wie allen überlebenden Kindern der "Nazi-Größen", eine besonders intensive Gehirnwäsche "re-education" hat angedeihen lassen - veröffentlicht seine Memoiren unter dem Titel "Der Schatten meines Vaters". Sie stellen eine gnadenlose Abrechnung mit einem Mann dar, den er persönlich so gut wie gar nicht und ansonsten nur aus den Schilderungen seiner Feinde kannte. Gleichwohl versucht der Hanser-Verlag, sie als "besonders authentisch" zu vermarkten; der Verkaufserfolg ist jedoch gleich null.


*Dikigoros formuliert das bewußt unscharf - eine "amerikanische" Abstammung gibt es ja eigentlich nicht. Der Name "Schirach" ist unzweifelhaft jüdisch; er schreibt darüber an anderer Stelle mehr (dort Fußnote 1). Freilich durfte das im "Dritten Reich" nicht bekannt werden; deshalb wurde 1939 eine offizielle "Geschichte der Familie von Schirach" veröffentlicht, in deren Stammtafel obskure Vorfahren namens Schirack aus dem sorbischen Ort Schiedel auftauchten, überwiegend gut-christliche Pastoren. (Entgegen einem heute weit verbreitetem Irrglauben entschied über den "Ariernachweis" nicht die Rasse, sondern ausschließlich die Taufe der Vorfahren.) Später grub man gar einen Pfarrer Hadam Bohachwał Šěrach ["Adam Gottlob Schirach"] (1724-1773) aus, mit dem jegliche Zweifel an Schirachs nicht-jüdischer Abstammung beseitigt wurden.


weiter zu Reinhard Heydrich

zurück zu Politiker des 20. Jahrhunderts

heim zu Von der Wiege bis zur Bahre