*Auf manchen Webseiten - z.B.
Wikipedia
- hält sich hartnäckig das Gerücht, Gaitán sei erst 1903 geboren. Die Vertreter jener These wissen jedoch in der Regel weder, wo das gewesen sein soll - beliebt ist die Angabe "in Kolumbien" oder "in Bogotá", da das nun mal die Hauptstadt Kolumbiens ist - noch wer oder was seine Eltern waren - beliebt ist die Frase "als Kind armer Eltern" - noch sonst irgend etwas über seine Kindheit - beliebt ist der Satz "er ging erst seit seinem 11. [oder 12.] Lebensjahr zur Schule" - und Jugendzeit. Dikigoros hält sich daher lieber an die Informationen aus Gaitáns näherem Umfeld, u.a. der Carillo-Stiftung, auch wenn deren Archive beim d"Erbfeind" Venezuela liegen - so ist wenigstens gewährleistet, daß er keinen Lobhudeleien aufsitzt.
**Gaitán kam zugute, daß er im Italienerviertel (flapsig "Zigeunerviertel" genannt) Bogotás aufgewachsen war. Aus europäischer Perspektive wird Südamerika meist als Kontinent mit spanisch-portugiesischer Einwanderung gesehen. Tatsächlich war - zumindest in Argentinien, Brasilien, Uruguay, Venezuela und eben auch Kolumbien - der Anteil der Italiener fast ebenso hoch. (Südamerika wurde nicht von Kolumbus entdeckt - der auch Italiener war, wenngleich in spanischen Diensten -, sondern von Americo Vespucci, der dem Kontinent seinen Namen gab.) Das läßt sich nicht nur in Zahlen messen. Während z.B. die meisten Strafgesetzbücher Europas auf den "Code Napoléon" zurück gehen, ist deren Grundlage in den meisten Staaten Südamerikas ein Entwurf Ferris, der dort unter Juristen entsprechend berühmt ist, während er in Europa so gut wie vergessen ist. Letzteres liegt wohl auch daran, daß er ein Freund
Mussolinis
war und sich wie dieser vom Sozialisten zum Fascisten gewandelt hatte, weshalb er heute im
"Wertewesten"
weitgehend geächtet
gecancelt
ist. Vor allem europäische Biografen - die nicht wahr haben wollen, daß sowohl der Fascismus als auch der National-Sozialismus (unabhängig von aller "Totalitarismus"-Diskussion) in erster Linie sozialistische Ideologien waren - wundern sich daher, wenn vermeintliche Sozial-Demokraten oder [Links-]Liberale in Lateinamerika zu Bewunderern des italienischen "Duce" wurden.
Das weitere Schicksal der Kolumbianer italienischer Herkunft ist symptomatisch für die traurige Entwicklung des gesamten Gemeinwesens. Ein Staat besteht ja nicht nur aus Land und Bodenschätzen, sondern auch aus Staatsgrenzen und einem Staatsvolk, das sie verteidigen muß gegen illegal eindringende Schädlinge. Wenn das nicht mehr gewährleistet ist, weil die Regierend[inn]en das Volk verraten, dann kommt es zum allgemeinen Niedergang, und der Staat verrottet - Dikigoros' deutsche Leser wissen das ja aus eigener Erfahrung. Als er in den 1980er Jahren zum letzten Mal in Kolumbien war, machten die Weißen - also der produktive Teil der Bevölkerung - noch über 30% aus, und es gab noch eine halbwegs intakte italienische "Community" (so sagt man doch jetzt auf Neudeutsch, nicht wahr?), deren Angehörige sich freuten, mit jemandem aus dem fernen Europa in ihrer Muttersprache reden zu können. Vier Jahrzehnte später weisen die offiziellen Statistiken bereits über 30% Neger, Mulatten und Zambos aus, dazu schlecht gut 60% Indios und Mestizen; der Anteil der Weißen - die das alles zusammenhalten und finanzieren - ist unter 10% gesunken, und Italiener werden nicht mal mehr als solche ausgewiesen. Ein Kontinent geht verloren, nein mehrere, einer nach dem anderen, aber Südamerika macht den Anfang; und da der faulende Fisch bekanntlich vom Kopf her zu stinken beginnt, hat es Kolumbien - und sein Nachbarland Venezuela - zuerst erwischt.
***Dikigoros kann nicht umhin, diesem unerfreulichen Thema wenigstens eine Fußnote zu widmen, da es dem Hinterbänkler Gaitán zu landesweiter Bekanntheit verhalf.
Die UFC - über die Dikigoros
an anderer Stelle
mehr schreibt (ebenfalls in Fußnote 3) - zahlte nicht nur die höchsten Löhne für Landarbeiter in Kolumbien, sondern auch die höchsten Löhne für Plantagenarbeiter in ganz Lateinamerika. Dennoch wurde - und wird - allenthalben von den Linken gegen sie gehetzt als "kapitalistisch", "ausbeuterisch" usw.
Im November 1928 (Gaitán weilte noch in Europa - er studierte allerdings nicht mehr in Rom, sondern verlustierte sich in Paris) hatte ein Streik auf der Bananenplange von Ciénaga begonnen. Dabei hatten militante Streikende (im Gewerkschaftsjargon: "Streikposten") Dutzende Arbeitswillige (im Gewerkschaftsjargon: "Streikbrecher") erschlagen. Im Dezember hatten die örtlichen Zivilbehörden, die der Lage nicht mehr Herr wurden, die Armee zu Hilfe gerufen, und die hatte den Zugang zur Plantage mit Waffengewalt wiederhergestellt. (Ob dabei Streikposten getötet wurden oder nicht oder doch, ist unklar. Dikigoros vermutet mal, daß die Gewerkschafter sich in allseits bekannter Feigheit Tapferkeit aus dem Staub machten, sobald die ersten Schüsse - wohl in die Luft - fielen.)
Als sich Gaitán im Juli 1929 - also ein halbes Jahr später - auf Propagandatour nach Ciénaga begab, lagen noch immer Leichen herum. Ohne dabei gewesen zu sein, entfachte er nach seiner Rückkehr nach Bogotá einen riesigen Pressewirbel, indem er kackfrech ins Blaue hinein behauptete, die Toten seien allesamt "Opfer des Militärs" gewesen, das - "auf Befehl der UFC" - den legitimen Streik "brutal unterdrückt" habe.
In die linke Geschichtsschreibung ist dieses Ereignis als "Masacre de las bananeras [Massaker an den Bananenarbeiterinnen]" eingegangen. Schon die Bezeichnung ist verräterisch. Schaun mer mal:
- Die aufgefundenen Toten waren also Frauen.
- Frauen wurden aber grundsätzlich nicht als "Streikposten" eingesetzt - das waren durchweg Männer.
- Männliche Bananenarbeiter hätten sich schwerlich an die bekanntermaßen brutalen Streikposten heran oder gar an ihnen vorbei getraut - sie wußten, daß sie sofort hinterrücks erschlagen worden wären.
- Die weiblichen Arbeiter vertrauten dagegen in ihrer Naivität darauf, daß man gegen sie keine Gewalt - schon gar keine tödliche - anwenden würde; viele mußten diesen Irrtum mit dem Leben bezahlen.
- Ganz ausschließen kann man indes nicht, daß auch einige "Streikposten" zu Tode kamen. Es hätte den Gewerkschaften ähnlich gesehen, nur ihre eigenen Leute zu beerdigen, die Leichen der "Streikbrecherinnen" aber zur Abschreckung liegen zu lassen und auch andere durch Drohungen davon abzuhalten, sie zu beseitigen.
Wohlgemerkt: Arbeitsniederlegungen sind legitim. Aber Andere, die arbeiten wollen, daran zu hindern, ist kriminell, nämlich mindestens eine strafbare Nötigung, wenn Gewalt angewendet wird sogar mehr; und wenn dabei Leute zu Tode kommen, dann ist das kein einfacher Totschlag, sondern Mord (qualifizierendes Tatbestandsmerkmal: niedere Beweggründe, in diesem Fall Habgier, denn es geht ja um höhere Löhne). Dikigoros schreibt dazu ausführlicher
hier (in Fußnote 1).
****Der Volksmund spricht flapsig von "Bogotazo" - ein, schwer zu übersetzendes Wort; die Endung "-azo" steht im allgemeinen für etwas besonders übles. Bogotá wird binnen weniger Tage weitgehend zerstört; die Zahl der Todesopfer beträgt allein dort über 5.000. Dikigoros spricht bewußt von "Krieg", denn es waren nicht bloß ein paar Partei-Milizen, die sich Straßenschlachten geliefert hätten. Vielmehr lösten sich Polizei und Streitkräfte nach und nach auf, da deren Angehörige - unter Mitnahme ihrer Waffen - zu einer der beiden Parteien desertierten.

weiter zu Rómulo Betancourt
zurück zu Politiker des 20. Jahrhunderts
heim zu Von der Wiege bis zur Bahre
|